So ruhig ist es im Michel selten. Kein Gedränge in den Gängen, kein Durchzwängen in den Kirchenbänken, keine Touristen. An diesem Sonntagmorgen ist alles anders: Die Kontaktbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie sind so weit gelockert worden, dass Gottesdienstbesuche wieder möglich sind – unter strenger Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln. Aber wie fühlt sich das an?
Die Vorfreude der Besucher, die sich für diesen sonnigen Sonntagmorgen angemeldet haben, ist groß. „Ich habe den Michel so vermisst“, sagt eine Besucherin, die schon weit vor der Zeit vor dem Portal wartet. Endlich öffnet sich die schwere Holztür, die ersten Gäste ziehen brav ihre Mund- und Nasenschutzmasken auf. Nur einzeln oder zusammen als gemeinsamer Haushalt dürfen sie in die Turmhalle eintreten. Ihre Namen werden mit der Anmeldeliste abgeglichen, dann dürfen sie eintreten. Endlich!
1Die erste Überraschung: Ganz ohne Maske begrüßt Pastorin Julia Atze die Gottesdienstbesucher. „Es besteht keine Maskenpflicht“, klärt sie auf; allerdings muss der Abstand von mindestens 1,50 Meterngewährleistet sein. Erleichtert nehmen die meisten die Masken gleich wieder ab, weil sie das Atmen oft schwer machen. Viele der Besucher kennt Julia Atze persönlich und grüßt sie mit Namen. Sie sind dem Michel oft langjährig verbunden, als Ehrenamtliche oder Gemeindeglieder dort tätig. Es wird vielgelacht, die Freude ist auf beiden Seiten groß, dass nach der langen Zeit des Wartens endlich wieder ein Gottesdienst gemeinsam gefeiert werden kann.
Langsam füllt sich die Kirche. Höflich, aber bestimmt werden die rund hundert Besucher nach und nach zu ihren zugeteilten Plätzen geleitet. Nur jede zweite Bank wird besetzt. Die verfügbaren Plätze sind mit einem roten Punkt markiert. Maximal drei bis vier solcher Punkte sind in den Bänken zu finden. So ist der Kontakt zum Nachbarn fast unmöglich, selbst wenn man sich kennt. Ein Nicken, ein Lächeln, ein zaghaftes Winken – mehr geht nicht. Und plötzlich wird spürbar, wie sehr die Pandemie unser Leben verändert und wie kostbar Nähe und Austausch sind.
Die Stille im Kirchenschiff ist fast greifbar. Kein Husten, Räuspern oder Lachen ist zu hören. Auch Paare und Familien, die zusammensitzen dürfen, reden kaum miteinander. Staunend und ein bisschen beklommen nehmen die Besucher ihren Michel wieder in Besitz. Bei manchen fließen Tränen. Die ungewohnte Stille bietet Raum für eigene Gedanken, für ein Gebet. Die Blicke schweifen durch den hellen, hohen Kirchenraum, die Seele kommt zur Ruhe. „Gott ist unter uns und in uns“, sagt Hauptpastor Röder in seiner Predigt. Das gilt vielleicht noch mehr an einem so besonderen Tag, an dem die Gemeinde trotz des Abstandes zusammenrückt und Trost findet in der Gemeinschaft.
Während des Gottesdienstes scheint manches wie sonst. Doch Corona bleibt allgegenwärtig, denn das Singen muss aus Hygienegründen unterbleiben: So steht es auf der zu Beginn ausgeteilten Gottesdienstordnung. Manche summen mit, vor allem die bekannten Lieder. Der Bassbariton Konstantin Heintel nimmt die besondere Stimmung auf. Hochkonzentriert und mit viel Gefühl übernimmt er das Singen für die Gemeinde und trifft buchstäblich den richtigen Ton. Nicht einstimmen zu dürfen fällt vielen sichtlich schwer und die Erleichterung ist deutlich zu hören, als alle zusammen das Vaterunser anstimmen dürfen.
Nach dem Orgelspiel verweilen viele Besucher noch, sie möchten den Moment auskosten. Ein Besucher bringt es beim Hinausgehen auf den Punkt: „Ich fühle mich gestärkt, aber seltsam war es schon.“ Wiederkommen wird er trotzdem.