Heute ist sie 80. Damals war sie acht. Nie wird sie die Nacht vergessen, in der der Feuersturm Gomorrha über Hamburg hereinbrach. Die vielen Stunden im Bunker, dem Keller eines großen Bürohauses am Hafen, waren für sie und ihre Familie schon fast Normalität. Doch diesmal hieß es plötzlich: Sofort raus, es brennt, Einsturzgefahr! Hunderte von Menschen drängten auf die Straße. Die Achtjährige mittendrin, in dem Chaos getrennt von Mutter, Großmutter, Bruder und Schwester. Heute noch sieht sie die Szenerie vor sich: „Man kann es sich kaum vorstellen: Phosphor läuft über die Straße, heller Feuerschein beleuchtet die Nacht, das Feuer fegt wie ein Sturm durch die Straßen, laut – alles liegt voller Gegenstände, Schutt, Steine.
Dorel stolperte. Die aus Holz und Schnur zusammengebundenen Schuhe gerieten in Brand. Ein freundlicher Mann kümmerte sich um das kleine Mädchen, brachte es zur Polizeiwache. Dort wurden die Brandwunden verbunden. Bestimmte Bilder kann Dorel Reiß noch heute abrufen: Der Raum war voller Menschen, mittendrin stand eine große Zinkwanne mit Wasser, daneben lag ein Stapel grauer Wolldecken. Dorel sollte mit einem Krankentransporter weggebracht werden, doch der war schon überbelegt. „Ein Feuerwehrmann sagte: Ach, den kleinen Fips nehm‘ ich auf den Arm! – Ich war damals klein und zierlich“, sagt die 80jährige, heute eher von kräftiger Statur. Der Mann tauchte eine Wolldecke ins Wasser, wickelte das Kind darin ein (zum Schutz gegen den Funkenflug) und trug es zum Michel.
Kurz vor dem Ziel mussten sie eine Straße überqueren. Und da kam wieder einer dieser Schicksals-Augenblicke, von denen Dorel Reiß heute sagt: „Zufälle gibt es nicht.“ Sie sahen den Krankentransporter, mit dem sie hätte transportiert werden sollen. Er fuhr auf einen Blindgänger und explodierte. „Deern, Du bist noch nicht dran“, sagte der Feuerwehrmann zu dem verstörten Kind.
Er brachte Dorel in die Krypta des Michel, die voller Menschen war. Der Eintritt in diesen Raum war die Wende: „Ich hatte sofort ein Gefühl von Wärme, Liebe und Geborgenheit. Hier konnte mir nichts mehr passieren.“ Diese Zuversicht hatte sie ihrer Großmutter zu verdanken. „Wenn ich als kleines Kind meine Großmutter fragte: Wo schläft mein Schutzengel?, sagte sie immer: dort, wo der liebe Gott wohnt. Und der wohnte ja im Michel!“ Jetzt war Dorel also bei ihrem Schutzengel. Nichts anderes zählte mehr. Sie saß rechts am Eingang, wo Kinder ohne Angehörige versammelt wurden. „Einige haben geweint. Aber dafür, dass so viele Menschen in der Krypta waren, war es recht ruhig. Es lag nur ein leises Murmeln in der Luft.“Dorel ahnte nicht, dass sich ihre Angehörigen im selben Raum aufhielten. Ihre Mutter hatte sich schon auf die Suche nach ihr gemacht, da war sie auf zwei Frauen getroffen, die in den Wehen lagen. Sie half ihnen, die Kinder zur Welt zu bringen. Dann lief sie weiter durch das Gedränge, 2000 Menschen lagerten in der Krypta. Endlich fand sie ihr Töchterchen auf den Bänken der Kinderecke. Das kleine blonde Mädchen war kaum wiederzuerkennen - verdreckt, verrußt, mit verbundenem Bein. Der Glücksmoment ließ die furchtbare Umgebung vergessen.
„Das ist mein Michel, der hat mir das Leben gerettet“, sagte Dorel Reiß auch viele Jahre später, als sie vor Pastor Helge Adolphsen zum Traugespräch saß. Ihren Ehemann Otto hatte sie zwar 17 Jahre vorher schon standesamtlich geheiratet – aber nun wollten beide das Gelöbnis noch einmal vor Gott bekräftigen. Natürlich im Michel. Denn auch Otto Reiß war „Michel-Fan ohne Ende“, erzählt sie.
Beide gehörten zur Gemeinde St. Michaelis, fuhren auch später, als sie nach Bad Oldesloe gezogen waren, in den Michel zu den Gottesdiensten. Und als Otto Reiß starb, wurde er auf der Gemeinschaftsgrabstelle von St. Michaelis auf dem Ohlsdorfer Friedhof beerdigt. Auch Dorel Reiß möchte ihre letzte Ruhe dort finden, im Umfeld des Michel. Mit seiner Obhut in der Bombennacht hat er ihr immerhin schon 72 Lebensjahre geschenkt.