Nachdenklich schaut sich Welf Schiller im leeren Michel um. Unten im Kirchenschiff zu stehen ist für den 83-Jährigen ungewohnt. Unzählige Male hat er schon mit seinem Shantychor Tampentrekker oben auf der Empore gestanden und in der der immer proppenvollen Kirche mit Seemannsliedern den Hafengeburtstag eröffnet. Wenn er daran denkt, kriegt er Gänsehaut: „Das ist Hamburg pur.“
Der Michel ist ein fester Ankerplatz für die Tampentrekker. „In der Inventarliste stehen wir im Michel noch nicht“, sagt Welf Schiller schmunzelnd. Doch die Sänger und Musiker fühlen sich der Hauptkirche tief verbunden, sie ist ein Stück Heimat. Da war es Ehrensache, dem Michel als Paten eines Rettungsrings in der Coronakrise beizustehen. Die Wahl fiel eindeutig aus: Der Rettungsring der SCHAARHÖRN sollte es sein, verbunden mit einer großzügigen Spende.
Viele gute Erinnerungen hängen für Welf Schiller an diesem Dampfer. Der von Wind und Wetter gezeichnete Rettungsring passt gut zu den singenden Matrosen der Tampentrekker, die viel gemeinsam erlebt haben – und auf der SCHAARHÖRN manchen Hafentörn mit viel Musik an Bord gemacht haben. Oft stand Welf Schiller, Inhaber des Kapitänspatents, selbst als Steuermann auf der Brücke und schipperte seine Chorfreunde durch den Hafen.
Mit 16 zog es Welt Schiller in die weite Welt, 23 Jahre fuhr er zur See. „Den Michel vom Schiff aus sehen war nach Hause kommen“, sagt er. Der gebürtige Berliner kam bei der Arbeit viel rum. „Nord- und Ostsee, Irische See, Schottland, Irland, Skandinavien“, zählt er auf. Zu Hause war er selten, von einem Hafen zum nächsten ging die Fahrt. „Fürs Singen hatten wir keine Zeit, höchstens mal abends in der Kneipe“, sagt er trocken. Irgendwann blieb er an Land: „Als meine zwei Kinder Onkel zu mir sagten, war es Zeit aufzuhören.“
Welf Schiller wurde mit 40 Jahren Modellbauer und stellte fest, dass das nicht so gut lief wie erhofft. Vieles hat Welf Schiller ausprobiert, auch bei einer Reederei für Seebestattung ist er als Kapitän von Travemünde und Wilhelmshaven gefahren. „Ich habe auch die Bestattung vorgenommen“, sagt er. Gern habe er Angehörige auf dem letzten Weg eines geliebten Menschen angemessen begleitet. „Die Sprüche dafür hatte ich in der Mütze versteckt. Aber meist ging es auch ohne.“
Das Arbeitsamt vermittelte ihn schließlich an die Diakoniestiftung Das Rauhe Haus in Hamburg. Dort wurde er übernommen als „Angestellter im handwerklichen Erziehungsdienst“. 15 Jahre blieb er dort. Die schweren Schickale der Jugendlichen berührten den ehemaligen Seemann sehr: „Ich habe in viele soziale Abgründe geguckt.“ Und weil hinter seiner drögen norddeutschen Fassade ein butterweiches Herz schlägt, kam er mit seiner Gradlinigkeit und echtem Interesse bei den oft vom Schicksal schwer gebeutelten Jugendlichen richtig gut an.
Sein soziales Engagement brachte Welf Schiller auch in Kontakt mit der SCHAARHÖRN. Als der Dampfer 1990 als Wrack im Dockschiff nach Hamburg kam, waren an der Restaurierung Jugendliche des Vereins „Jugend in Arbeit“ beteiligt, für den seine Frau tätig war. Der alte Kapitän entdeckte seine Lust an der Seefahrt neu. Bei Chartertörns für den Verein mit der SCHAARHÖRN und der Barkasse TOGO erklärte er Landratten kompetent die maritime Welt.
Nach 49 Jahren Arbeit ging Welf Schiller in Rente und sang bei den Tampentrekkern vor, „um was um die Ohren zu haben.“ Shantys sind ein Stück norddeutsche Heimat, findet er, „jeder kennt die Lieder.“ Singen kann der Tenor, Notenlesen geht so lala – und ein Instrument spielen? „Mundharmonika“, sagt er wortkarg. Die Zeit bei den Tampentrekkern brachte Gastspiele in ganz Europa, viele Auftritten in der Heimat und Kultstatus als Begleitung der NDR-Show „Inas Nacht“. Wie es ihm beim Fernsehen gefallen hat? „Beim stundenlangen Stehen sind mir die Füße eingeschlafen und kalt war es auch“, zieht er knurrig Bilanz.
Ob ihm die Seefahrt fehlt? „Nein“, sagt er entschieden und knickt dann doch ein: Gelegentlich fahre er nach Helgoland. Und seine eigene Seebestattung in der Kieler Bucht ist schon fest geplant.