Der Michel hüllt sich in an diesem Morgen in vornehmes Hamburger Grau, feiner Nieselregen lässt das Pflaster glänzen. Trotz des klassischen Schietwetters haben sich zahlreiche Menschen zur 26. Micheltafel-Verlegung auf der Nordseite der Hauptkirche eingefunden. Freudige Erwartung liegt in der Luft, denn diesmal sind die Gewinner eines Wettbewerbs dabei. Mehr als 300 Menschen hatten sich beteiligt, als der Michel in exklusiver Partnerschaft mit dem Hamburger Abendblatt im Sommer die Hamburger fragte, warum ihr Herz dem Michel gehöre.
Die sehr persönlichen Antworten fielen mal fröhlich, mal nachdenklich aus – doch immer kamen sie von Herzen. Die zehn Gewinner wurden nun mit ihren Liebeserklärungen und ihren Namen an ihren Michel auf einer Jubiläumstafel verewigt – der Tafel Nummer 200. „Die Auswahl ist uns nicht leichtgefallen“, sagt Hauptpastor und Jurymitglied Alexander Röder und sein Jurykollege Harald Vogelsang, Vorstandssprecher der Hamburger Sparkasse, ergänzt: „Bei manchem der Bekenntnisse zum Michel hatte ich Tränen in den Augen.“
Gewinner Rolf Martens konnte schon um 4.30 Uhr vor Aufregung nicht mehr schlafen. Schon ganz früh reiste er mit seiner Familie an, die sehr stolz auf den Gewinner ist. „Opa wird berühmt!“, sagt seine Tochter lachend. „Schreiben ist mein Hobby, ich mache so was gerne“, erklärt Rolf Martens. Sein Herz, so hat er geschrieben, gehört dem Michel,
„weil er da ist, von allen geliebt,
Freude gibt, Leid tröstet
mit offenem Ohr bereit.
Michel du bist Hamburg!“
Auch Gisela Heling ist gekommen, um zu erleben, wie „ihre Tafel“ heute verlegt wird. Sie hat sich mit nur einem Satz beworben: „ … weil um sein Haupt immer der Wind der Freiheit weht.“ Freiheit sei ihr Lebensthema, sagt die Hamburgerin. Mit 58 Jahren ging sie allein auf Rucksackreisen durch Südostasien und Indien. „Selbst entscheiden zu können, wo ich hingehen möchte, was ist tun möchte, das ist Freiheit. Sich in der Welt zu bewegen ist für uns normal, aber das ist keine Selbstverständlichkeit.“ Weite, Wind und Freiheit, „das ist für mich der Michel.“
Cornelia Borchers hat ihren Vorschlag in einer originellen Flaschenpost eingereicht, ein geflügeltes Wort ihrer Eltern. Harald Vogelsang und Alexander Röder wechseln sich beim Vorlesen der Gewinnertexte ab und Alexander Röder bekommt für das Vorlesen des plattdeutschen Textes spontanen Applaus:
„… weil du dat Hart von Hamburg büst,
uns Heimat, mien Anker,
man müst di erfinnen,
wenn’t di nich all geev!“
Moni Hadj-Tayeb strahlt unterm Regenschirm. Ihre Familie ist dem Michel seit langem verbunden. Christmette, Turmbesteigung, die „Michel-Uhr“ ihrer Mutter mit dem aus Michel-Kupfer gefertigten Zifferblatt gehören zu ihren Kindheitserinnerungen. Ihr geliebter Onkel gehörte zur Gemeinde und als er unerwartet starb, gab ihr der Michel Trost und Halt. „Ich komme oft, um einfach nur eine Kerze anzuzünden“, erzählt sie. Ihr Herz gehört dem Michel,
„weil du lieber Michel, meine Hamburger Seele berührst.
Du bist meine Heimat, mein Anker,
du bringst mir den Himmel so nah.“
Den Michel mit allen Sinnen erleben – das ist für Kirsten Herrmann (75) keine Selbstverständlichkeit. Als Kind und Jugendliche war sie schwerhörig, mit 16 Jahren wurde sie erfolgreich operiert. Der Klang der Michelglocken war das erste, was sie wieder bewusst und mit Freude hören konnte – endlich! Dafür ist sie bis heute dankbar und hat ihr Herz dem Michel geschenkt, „weil er mit seinem Glockenklang meine Seele berührt.“
Die Michelglocken sind auch für Janine Stegemann etwas Besonderes. Sie lebt in einem Zimmer im Seemannsheim gleich gegenüber vom Michel. Ihre Heimat, ein kleines Dorf in Niedersachsen, zu verlassen, war für die junge Frau ein weiterer großer Schritt in die Selbstständigkeit, denn sie hat eine Sehbehinderung. Seit einigen Jahren engagiert sie sich ehrenamtlich am Michel. Ihm gehört ihr Herz, „weil er mir ein Zuhause und eine Familie gegeben hat. Er ist für mich das größte Glück der Welt.“
Die Zeremonie hat Markus Kniffka aus Moers mehr bewegt als er vorher geglaubt hatte. Still zieht er sich für einen Moment zurück – dieser besondere Moment hat eine Kraft, die Markus Kniffka leuchten lässt. Für ihn ist der Michel „der Engel, der über mein geliebtes Hamburg wacht.“ Die Stadt sei sein Kraftort und sein spirituelles Zentrum, sagt er. „Wenn ich Hamburg verlasse, dann weiß ich, der Michel passt auf alles und auf alle auf.“
Auch Rolf Martens ist bewegt von dem Gedanken, dass er nun seinen Platz am Michel gefunden hat. „Vorher hab ich mich gefreut, jetzt freue ich mich – und jeden weiteren Tag ein bisschen mehr“, sagt er und lächelt fein. Der Regen hat aufgehört und für einen kurzen Moment blitzt die Sonne auf.