Behutsam streicht Erhard Stolle über den weiß-roten Rettungsring. Dies ist nicht der Ring, der jetzt im Michel seinen Platz gefunden hat, sondern sein kleiner Bruder: ein Rettungsring, kaum größer als eine Kuchenform, den Erhard Stolle selbst genäht hat, damals in der Marineschule. Viele Jahrzehnte hat der kleine Rettungsring den heute 94-Jährigen begleitet, eine Erinnerung an den Krieg und an vielzu früh verlorene Freunde. Der große Rettungsring der ATLANTIS, den Erhard Stolle dem Michel als Leihgabe überlassen hat, erzählt von Wiederaufbau und Hoffnung nach dem Krieg – und damit auch von seiner Rettung.
Geboren wurde Erhard Stolle in Bitterfeld „im Zechenhaus“, erzählt er. Sein Vater war Expedient auf der Grube. Als der Krieg begann, war Erhard Stolle gerade 13 Jahre alt. Er absolvierte die Marineschule. Dort lernte er die Grundzüge verschiedener Handwerke und nähte neben einem großen auch den kleinen Rettungsring, der 70 Jahre lang sein Begleiter blieb. Als Bootsmaat landete er auf einem Torpedoboot und kann heute noch nicht fassen, wie viele Schutzengel über ihn gewachthaben müssen. Mit seiner Entlassung 1945 begann sein neues Leben in Dithmarschen – als Konditorlehrling in Heide.
Direkt gegenüber der Konditorei lag das Reisebüro Biehl. „Der Lehrling von drüben musste genau wieich die Straße fegen“, erinnert sich der rüstige Senior – so begann mit Ingwer Biehl eine Freundschaft fürs Leben. „Meine erste Friedensweihnacht habe ich bei Familie Biehl verbracht“, erzählt Erhard Stolle. Heide wurde seine neue Heimat, „meine Freudenstadt“, wie er strahlend sagt. Hier begann sein neues Leben, seine Zukunft im Frieden.
Die Biehls verkauften damals im Reisebüro Fahrkarten für die Schiffsüberfahrt von Büsum nach Helgoland. Cassen Eils, ein Freund der Familie und so auch bald ein Freund von Erhard Stolle, hatte mit der RUDOLF das erste Schiff dafür am Start. Mit der ATLANTIS, dem zweiten Schiff von Cassen Eils, nahm das Geschäft richtig Fahrt auf. Bei einer Versteigerung erwarb Familie Biehl den Rettungsring der ATLANTIS, der auf Umwegen schließlich bei Erhard Stolle landete.
Das Leben hat es gut mit ihm gemeint, findet der alte Herr, der in Hamburg und Büsum zuhause ist. Stundenlang und sehr lebendig kann er davon erzählen: Als Croupier in der Spielbank auf Sylt hat er gearbeitet, als Kellner auf der Hannover Messe so etwas wie Freundschaft mit dem früheren Bundeskanzler Ludwig Erhard geschlossen. Er bildete Barkeeper aus und hatte lange Jahre eine legendäre Bar in einem alten Pferdestall in Büsum. „Ich kannte immer die richtigen Leute“, sagt er schmunzelnd.
Für dieses bunte Leben und seine Familie ist er dankbar und so hat er nicht gezögert, seinen Rettungsring zur Rettung des Michel auszuwerfen. „Etwas Schöneres als diese Aktion gibt es nicht“, findet er. „Und schließlich ist mein Rettungsring doch ziemlich gut erhalten, oder?