Erntedank
Der Herbst markiert den Übergang von der Fülle des Sommers zur Kargheit des Winters. Schon im Sommer beginnt die Ernte von Getreide, Obst und Gemüse, doch der Herbst ist wie ein zweiter Höhepunkt, vor allem aber der Abschluss der Erntesaison. Früher nur in guten Jahren, heute zumindest in der westlichen Welt ganz selbstverständlich, wird mehr geerntet, als wir Menschen verbrauchen können. Fülle und Überfluss hier stehen in krassem Gegensatz zu Mangel und Hunger in vielen anderen Gegenden der Welt.
Schon früh hat der Mensch begonnen, Vorräte für den Winter anzulegen. Die Fülle, die jahreszeitlich mit dem Herbst verbunden wird, erinnert an den Urzustand der Welt, von dem die Bibel erzählt: Das Paradies, in dem für den Menschen alles zu jeder Zeit bereitlag, und den Garten Eden, den der Mensch bebauen und pflegen sollte. Folge des Sündenfalls ist nach biblischem Bericht nicht nur die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies, sondern zudem ein Fluch, den Gott über dem Acker ausspricht und der das Leben der Menschen unmittelbar betrifft: Der Acker werde nur Dornen und Distel tragen und nur unter Mühsal den Lebensunterhalt sichern, und der Mensch müsse im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen (1. Mose 3, 17-19).
Erst nach der Sintflut nimmt Gott diesen Fluch teilweise zurück, wenn er verheißt, dass „solange die Erde steht, ... nicht aufhören (soll) Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (1. Mose 8, 22). Das garantiert allerdings keine gute Ernte, und Missernten haben zu allen Zeiten und bis heute zu Hungersnöten geführt. Darum ist eine gute Ernte schon seit Jahrtausenden und eigentlich in allen Kulturen Anlass zum Dank – gegen die Götter, später den einen Gott. Alles, was ist, verdankt sich der Schöpfung durch Gott, so die Erkenntnis in de rjüdisch-christlichen Tradition. Was der Mensch nach dem Sündenfall durch seine Arbeit und seinen Fleiß schafft und was die Erde hervorbringt, ist theologisch ein Geschenk Gottes, das ihm gehört. Darum ist es nur konsequent, ihm dafür Dank zu sagen.
Der Mensch erkennt seine Abhängigkeit von den Gaben der Natur. Der Abschluss der Ernte gewährt in guten Jahren Ruhe und Gelassenheit im Blick auf den Naturkreislauf. Erntedank ist Dank für die Fülle. In der jüdischen Tradition entstanden im Laufe der Zeit zwei Erntedankfeste: Zu Pfingsten (Schawuot) entwickelte sich ein Getreideerntefest. Das Laubhüttenfest (Sukkot) wird als Weinfest gefeiert und als Dankfest für die gesamte Ernte. In der Kirche ist ein Erntedankfest seit dem 3. Jahrhundert belegt, allerdings fehlt ein weltweit einheitlicher Festtermin. Ihn kann es nicht geben, weil der Festzeitpunkt je nach Klimazone unterschiedlich fällt.
Heutzutage ist die kirchliche Erntedankfeier in den Gottesdienst integriert und für die Gemeinden der Evangelischen Kirche in Deutschland festgelegt auf den ersten Sonntag im Oktober. Erntegaben schmücken den Altar oder werden im Gottesdienst zum Altar gebracht. Erntekronen aus Getreide sind seit den 60er Jahren des 19.Jahrhunderts nachweisbar. In vielen Gemeinden ist es üblich, die Erntegaben anschließend zu verteilen. Erntelieder, wie „Wir pflügen und wir streuen“ nach einem Lied von Matthias Claudius oder „Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit“ sind bis heute bekannt und beliebt. In den letzten Jahrzehnten und unter dem Einfluss eines veränderten ökologischen, aber auch ökonomischen Bewusstseins ist das Erntedankfest auch Anlass zur Erinnerung und Mahnung an einen bewahrenden Umgang mit den Ressourcen unserer Erde, die globale Verantwortung und eine Anfrage an unser Konsumverhalten.
Dennoch hat das Erntedankfest bis heute seinen volkstümlichen und volkskirchlichen Charakter behalten und ist in verschiedenen Regionen Deutschlands mit reichem Brauchtum verbunden, wie zum Beispiel Umzügen mit geschmückten Erntewagen oder „Erntebildern“, die aus Obst und Gemüse gestaltet und in den Kirchen präsentiert werden.
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